«Genwüste» steuert Embryonalentwicklung und Herzfunktion

Forschende der Universität Bern haben in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern herausgefunden, dass ein als «Genwüste» bezeichneter Abschnitt des Erbguts eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Embryos und des Herzens bei Mäusen und Menschen spielt. Die Studie liefert einen weiteren Beleg für die Bedeutung dieser genfreien DNA-Abschnitte für die Steuerung von Genen und bietet Ansätze, um Herzkrankheiten frühzeitig zu erkennen.

Das menschliche Erbgut (Genom) enthält spezifische DNA-Abschnitte, bekannt als «Gene», die als Bauplan für Proteine dienen. Wenn sich diese Abschnitte verändern und sogenannte Mutationen entstehen, kann dies zu Krankheiten oder zu Fehlbildungen des Embryos führen. Die Untersuchung des Genoms hat gezeigt, dass Mutationen auch in DNA-Bereichen ohne Bauplan für Proteine (sogenannte «nicht-kodierende Regionen») Probleme verursachen können. Diese nicht-kodierenden Regionen, die oft als «Junk-DNA» oder «Genwüsten» bezeichnet werden, spielen nämlich eine entscheidende Rolle bei der Steuerung der Gene und der Entwicklung.

In einer aktuellen, vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Studie, hat ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Dr. Marco Osterwalder, Department for BioMedical Research (DBMR) der Universität Bern und Universitätsklinik für Kardiologie am Inselspital, Universitätsspital Bern, am Mausmodell untersucht, welche Rolle eine solche Genwüste angrenzend an das Shox2 Gen spielt. Dieses ist zentral für die Entwicklung der Gliedmassen und Herzfunktion, sowohl beim Menschen als auch bei Mäusen. In Zusammenarbeit mit Prof. John Cobb von der Universität Calgary in Kanada und weiteren Partnern konnte das Forschungsteam zeigen, dass die um Shox2 liegende Region wichtige Elemente enthält, die dessen Aktivität steuern. Die Studienergebnisse wurden kürzlich in Nature Communications publiziert.

Genwüsten enthalten wichtige Steuerungselemente
Frühere Untersuchungen in Mäusen hatten gezeigt, dass es zu schweren Herzproblemen (Arrhythmien) und sogar zum Tod des Embryos kommen kann, wenn Shox2 nicht richtig funktioniert. Mutationen in der menschlichen Variante dieses Gens wurden ebenfalls mit Arrhythmien assoziiert. Es war auch bekannt, dass die nicht-kodierende Region rund um Shox2, bei Menschen und Mäusen sehr ähnlich ist. Wie die Aktivität des Gens im Embryo aber genau gesteuert wird, war bisher unklar. Frühere Studien haben zudem auch gezeigt, dass nicht alle Genwüsten, trotz ihrer teilweise immensen Ausdehnung, wichtig für die Embryonalentwicklung sind.

Die aktuelle Studie zeigt nun aber, dass der vermeintlich weitgehend "leere" DNA-Abschnitt neben dem entwicklungsbiologisch wichtigen Shox2-Gen insgesamt 15 Steuerelemente, so genannte Enhancer, enthält. Diese Enhancer steuern, wie und wo das Gen während der Embryonalentwicklung aktiv ist. 

Ein Beispiel für die Bedeutung dieser Enhancer ist ihre Rolle in der Herzentwicklung. «In unserer Studie konnten wir zeigen, dass ein bestimmter Enhancer in der Genwüste die Aktivität des Shox2 Gens in den Zellen des sich entwickelnden Herzens bei Mäusen mitreguliert. Dies ist besonders wichtig, weil Shox2 eine Schlüsselrolle bei der Bildung des Sinusknotens spielt. Dieser gilt als natürlicher Herzschrittmacher, indem er elektrische Impulse erzeugt, die den Herzschlag kontrollieren», erklärt Marco Osterwalder, Co-Letztautor der Studie.

Potenzial für die genetische Diagnostik                                                                                                                                                                                               
Bisher gab es nur wenige Beispiele für nicht-kodierende genomische Abschnitte, die für das Überleben von Mäuseembryos und deshalb mit grosser Wahrscheinlichkeit auch für menschliche Embryonen zentral sind. «Die vorliegende Studie identifiziert nicht nur eine wichtige nicht-kodierende Regionen im Genom, sondern zeigt auch wie komplex die Mechanismen sind, die der Steuerung von Entwicklungsgenen zugrunde liegen. Die neuen Ergebnisse können uns dabei helfen besser zu verstehen, wie Enhancer funktionieren und wie einzelne Gene in verschiedenen Zelltypen und Geweben des Embryos zeitgleich aktiv sind», sagt Osterwalder. Die Forschungsgebiete der funktionellen Genomik und der Erforschung von Krankheiten, die durch defekte Enhancer entstehen sind noch relativ neu und stehen im Zentrum moderner Forschungsansätze der Präzisionsmedizin. An der Medizinischen Fakultät der Universität Bern werden diese Schwerpunkte derzeit intensiv im Rahmen von «PACE», dem «Lighthouse» Projekt des Berner Zentrums für Präzisionsmedizin (BCPM) verfolgt.

Laut den Forschenden sind die Resultate besonders relevant für die «Kartierung» des menschlichen Genoms und könnten insbesondere in der modernen personalisierten Medizin für die genetische Diagnostik von grosser Bedeutung sein. Beispielsweise könnten genetische Tests, die Mutationen in diesen nicht-kodierenden Regionen finden, dazu beitragen, das Risiko für bestimmte Geburtsfehler oder Herzkrankheiten wie beispielsweise Arrhythmien frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu behandeln. 

«Als Teil des Cardiovascular Disease Programms am DBMR und des Cardiovascular Disease Clusters (CVRC) der Universität Bern werden wir die Erkenntnisse aus unserer Studie nutzen, um herauszufinden, wie die Entwicklung des Sinusknoten im Genom verankert ist», sagt Osterwalder. Ziel der Forschenden ist es, alle Steuerelemente mit Aktivität im Herzen innerhalb der untersuchten Genwüste zu identifizieren und zu untersuchen, ob diese von krankheitsrelevanten Mutationen betroffen sein könnten. «Diese Erkenntnisse könnten wichtige Beiträge zur genetischen Diagnostik und zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen leisten», sagt Osterwalder abschliessend. 

 

Angaben zur Publikation:
Abassah-Oppong, S., Zoia, M., Mannion, B.J. et al. A gene desert required for regulatory control of pleiotropic Shox2 expression and embryonic survival. Nat Commun 15, 8793 (2024). https://doi.org/10.1038/s41467-024-53009-7

Kontakt:
Ass. Prof. Dr. Marco Osterwalder, Department for BioMedical Research (DBMR) und Universitätsklinik für Kardiologie, Inselspital Universität Bern
Tel. + 41 31 684 04 13
E-Mail: marco.osterwalder@STOP-SPAM.unibe.ch 

 

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